Erich-Wolfgang Moersch

von Rechtsanwalt Erich-Wolfgang Moersch

 

 


 

 

– versichert im Home Office, aber nur direkt am Schreibtisch

– versichert auf der Firmenwanderung, jetzt auch ohne Chef

– versichert beim Arztbesuch, aber nicht wenn´s schnell geht

Am 05.07.2015 hat der für das Recht der gesetzlichen Unfallversicherung zuständige Zweite Senat des Bundessozialgerichts in drei Entscheidungen zu wichtigen Fragen der Abgrenzung zwischen den versicherten Bereichen „Betrieb“ und „Weg zur Arbeit“ einerseits und dem nicht versicherten privaten Lebensbereich andererseits Stellung genommen.

 

A) Home Office

Entscheidung (B 2 U 5/15 R)

Das BSG hat entschieden, dass eine Arbeitnehmerin, die sich von Ihrem häuslichen Arbeitsplatz entfernt, um sich aus der ein Stockwerk tiefer liegenden Küche ein Glas Wasser zu holen, den Versicherungsschutz der gesetzlichen Unfallversicherung bei der zuständigen Berufsgenossenschaft verliert.

Sachverhalt

Alle Arbeitnehmer, die ständig oder an einzelnen Tagen im Home Office arbeiten, sollten sich demnach zukünftig in ihrer Wohnung besonders vorsichtig bewegen und zumindest in Erwägung ziehen, ob sie sich privat einen dem gesetzlichen gleichwertigen Unfallversicherungsschutz beschaffen. Das Gericht verneinte einen Arbeitsunfall der Mitarbeiterin, weil „ihre Verrichtung zur Zeit des Unfallereignisses ‑ das Hinabsteigen der Treppe, um sich in der Küche Wasser zu holen ‑ nicht in einem sachlichen Zusammenhang zur versicherten Tätigkeit“ stand.

Grundsätze

Eine Beschäftigung im Sinne des § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII wird ausgeübt, wenn mit der Verrichtung eine eigene objektiv bestehende Haupt- oder Nebenpflicht aus dem zugrunde liegenden Arbeitsverhältnis erfüllt werden soll. Einer solchen Pflicht sei die Klägerin im fraglichen Fall mit dem Zurücklegen des Weges in die Küche nicht nachgekommen. Sie habe sich zum Unfallzeitpunkt auch nicht auf einem Betriebsweg befunden. Betriebswege werden in Ausübung der versicherten Tätigkeit und damit im unmittelbaren Betriebsinteresse zurückgelegt. Sie sind nicht auf das Betriebsgelände beschränkt, sondern können auch außerhalb der Betriebsstätte anfallen.

Das BSG hat  bei Unfällen, die sich in Räumen oder auf Treppen ereignen, die weder eindeutig der Privatwohnung noch der Betriebsstätte zugeordnet werden können, darauf abgestellt, ob der Ort, an dem sich der Unfall ereignete, auch Betriebszwecken (wesentlich) gedient hat und wie sich der Nutzungszweck zum Unfallzeitpunkt darstellte (BSG 12.12.2006, B 2 U 28/05 R = BSGE 98, 20 = SozR 4-2700 § 8 Nr. 20). Die Klägerin ist hier auf dem Weg von der Arbeitsstätte zur Küche und damit in den persönlichen Lebensbereich ausgerutscht. Die Klägerin ist die Treppe nicht hinabgestiegen, um ihre versicherte Beschäftigung auszuüben, sondern um in der Küche Wasser zum Trinken zu holen und damit einer typischen eigenwirtschaftlichen Tätigkeit nachzugehen. Grundsätzlich ist das Zurücklegen eines Wegs zum Ort der Nahrungsaufnahme versichert. Dies ist deshalb gerechtfertigt, weil der Weg zur Nahrungsaufnahme oder zum Einkauf von Lebensmitteln für den alsbaldigen Verzehr in seinem Ausgangs- und Zielpunkt durch die Notwendigkeit geprägt ist, persönlich im Beschäftigungsbetrieb anwesend zu sein und dort betriebliche Tätigkeiten zu verrichten (BSG, 18.6.2013, B 2 U 7/12 R = SozR 4-2700 § 8 Nr. 49). Gerade dies trifft bei der Klägerin nicht zu. Sie unterlag hinsichtlich der beabsichtigten Nahrungsaufnahme keinen betrieblichen Vorgaben oder Zwängen.

Die betrieblichen Interessen dienende Arbeit in der Wohnung eines Versicherten nimmt aber einer Wohnung nicht den Charakter der privaten, nicht versicherten Lebenssphäre. Die ihr innewohnenden Risiken hat nicht der Arbeitgeber zu verantworten und vermag der Versicherte selbst am besten zu beherrschen. Den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung ist es außerhalb der Betriebsstätten ihrer Mitglieder (der Arbeitgeber) kaum möglich, präventive, gefahrenreduzierende Maßnahmen zu ergreifen. Daher ist es sachgerecht, das vom häuslichen und damit persönlichen Lebensbereich ausgehende Unfallrisiko den Versicherten und nicht der gesetzlichen Unfallversicherung, mit der die Unternehmerhaftung abgelöst werden soll, zuzurechnen

(vorgängig: SG Mainz – S 5 U 222/12; LSG Rheinland-Pfalz – L 3 U 171/14)

 

B) Weihnachtswanderung

Entscheidung (B 2 U 19/14 R)

Die Klägerin hat am 9.12.2010 einen in der gesetzlichen Unfallversicherung versicherten Arbeitsunfall gem. §§ 2 Abs. 1 Nr. 1, 8 Abs. 1 SGB VII erlitten, als sie bei einer Wanderung im Rahmen der Weihnachtsfeier ihres Sachgebiets stürzte. Die Klägerin war als Beschäftigte versichert, weil die Weihnachtsfeier in einem inneren Zusammenhang mit ihrer versicherten Tätigkeit als Sozialversicherungsfachangestellte stand.

Sachverhalt

Die betrieblichen Weihnachtsfeiern waren der direkt dem Dienststellenleiter unterstehenden Büroleitung anzuzeigen und die Beschäftigten erhielten eine Zeitgutschrift in Höhe von 10 v.H. der wöchentlichen Arbeitszeit. Der Beginn der Weihnachtsfeiern durfte nicht vor 12 Uhr mittags liegen und war durch Betätigung der Zeiterfassung zu dokumentieren. Durch die Gesamtheit dieser ‑ zudem seit Jahren praktizierten ‑ Vereinbarungen wurde hinreichend deutlich, dass die Feiern der einzelnen Sachgebiete im Einvernehmen mit der Behördenleitung und damit im dienstlichen Interesse stattfanden.

Grundsätze

Betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen stehen unter dem Schutz der Gesetzlichen Unfallversicherung, weil durch sie das Betriebsklima gefördert und der Zusammenhalt der Beschäftigten untereinander gestärkt wird. Dieser Zweck wird auch erreicht und gefördert, wenn kleinere Untergliederungen eines Betriebes Gemeinschaftsveranstaltungen durchführen.

Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist demnach die Teilnahme an einer betrieblichen Gemeinschaftsveranstaltung als Ausprägung der Beschäftigtenversicherung gem. § 2 Abs. 1 Nr. 1 SGB VII versichert. Hierfür war bereits nach bisheriger Rechtsprechung zunächst erforderlich, dass die Veranstaltung „im Einvernehmen“ mit der Betriebsleitung stattfand. Für ein solches „Einvernehmen“ reicht es aus, wenn der Dienststellenleiter in einer Dienstbesprechung mit den jeweiligen Sachgebietsleitern vereinbart, dass die jeweiligen Sachgebiete Weihnachtsfeiern veranstalten dürfen.

Soweit das BSG bislang als weiteres Kriterium für versicherte betriebliche Gemeinschaftsveranstaltungen darauf abgestellt hat, dass die Unternehmensleitung persönlich an der Feier teilnehmen muss, wird hieran nicht länger festgehalten.

(vorgängig: SG Kassel – S 4 U 176/11; Hessisches LSG – L 3 U 125/13)

 

C) Arztbesuch

Entscheidung (B 2 U 16/14 R)

Bei einem Arztbesuch am Morgen ist der anschließende Weg zur Arbeit in der Regel nicht gesetzlich unfallversichert. Anderes gilt nur, wenn der Aufenthalt in der Praxis mindestens zwei Stunden gedauert hat,

Sachverhalt

Der Kläger war morgens mit dem Fahrrad für eine Blutuntersuchung zunächst zu seinem Hausarzt gefahren. Nach 40 Minuten brach er von dort zu seinem Arbeitsort auf und stieß unterwegs mit einem Auto zusammen. Nach dem Kasseler Urteil war dies kein Arbeitsunfall. Zwar könne auch der Weg von einem „dritten Ort“ zur Arbeit versichert sein. Um private Umwege abzugrenzen, etwa zum Einkaufen, gelte dies nur bei einem Aufenthalt ab zwei Stunden.

Grundsätze

Der Kläger war als Lagerarbeiter und damit als Beschäftigter iS des § 2 Abs 1 Nr 1 SGB VII versichert, verrichtete jedoch unmittelbar vor dem Unfallereignis keine versicherte Tätigkeit. Er legte während des Überquerens der Straße unmittelbar vor dem Unfallereignis weder einen versicherten Betriebsweg noch einen versicherten Weg zur Arbeitsstätte zurück. Ein versicherter Betriebsweg setzt voraus, dass ein Weg im unmittelbaren Betriebsinteresse zurückgelegt wird. Auf einem solchen Weg befand sich der Kläger unmittelbar vor dem Unfallereignis nicht, weil er die Arztpraxis aufsuchte, um im eigenwirtschaftlichen Interesse die regelmäßig erforderliche Kontrolle seiner Blutwerte zur Medikamenteneinstellung durchführen zu lassen. Eine entsprechende arbeitsrechtliche Verpflichtung hierzu bestand nicht und einer solchen wollte der Kläger auch nicht nachkommen. Dass der Arbeitgeber den Arztbesuch gebilligt hatte, begründete eine solche Pflicht nicht. Der mit dem Besuch der Arztpraxis verfolgte Zweck diente dem eigenwirtschaftlichen Interesse des Klägers und machte den Arztbesuch und den deshalb zurückgelegten Weg nicht zu einer dem Beschäftigungsunternehmen dienenden Tätigkeit.

Der Kläger befand sich unmittelbar vor dem Unfallereignis auch nicht auf einem nach § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weg zur Arbeitsstätte. Zwar war seine Handlungstendenz zu diesem Zeitpunkt darauf gerichtet, den Weg von der Arztpraxis zu seiner Arbeitsstätte zurückzulegen, um dort seine versicherte Tätigkeit als Lagerarbeiter aufzunehmen. Er bewegte sich jedoch unmittelbar vor dem Unfallereignis nicht auf dem unter Versicherungsschutz stehenden direkten Weg zwischen seiner Wohnung, von der er den Weg zunächst angetreten hatte, und dem Ort seiner Tätigkeit, sondern hatte diesen Weg verlassen und unmittelbar vor dem Unfallereignis auch noch nicht wieder erreicht.

Der Kläger legte auch keinen gemäß § 8 Abs 2 Nr 1 SGB VII versicherten Weg zur Arbeitsstätte von einem anderen Ort als der Wohnung, einem sog. dritten Ort, zurück. Er hielt sich nämlich lediglich 40 Minuten in der Arztpraxis auf, ein Aufenthalt von mindestens zwei Stunden war auch nicht geplant. Nach der ständigen Rechtsprechung des Senats besteht Unfallversicherungsschutz auf einem Weg von einem anderen Ort als dem Ort der Wohnung zur Arbeitsstätte u.a. dann, wenn der Aufenthalt an dem dritten Ort „angemessen“ ist (Entfernung, Zweck) und der tatsächliche oder geplante Aufenthalt des Versicherten an diesem sog. dritten Ort mindestens zwei Stunden dauert (BSG, 5.5.1998, B 2 U 40/97 R = BSGE 82, 138). Wege, die nicht unmittelbar zwischen der Wohnung und der Arbeitsstätte zurückgelegt werden, sondern aus eigenwirtschaftlichen Gründen unterbrochen oder in eine andere Richtung hin verlassen wurden und dann von einem anderen Ort aus fortgesetzt werden, sind abzugrenzen von versicherten Wegen von einem sog. dritten Ort zur Arbeitsstätte.

Vorgängig: SG Regensburg – S 5 U 232/12; Bayerisches LSG – L 2 U 180/13)